23.08.2014 „Ein Ort erzählt“ von Oliver Henkel

„EIN ORT ERZÄHLT – Die Autobiographie der Lokfelder Brücke“

Diese Geschichte wurde 2014 geschrieben von unserem lieben Freund und Vereinsmitglied, Oliver Henkel. Sie ist ein wirklich besonderes Geschenk zum Jubiläum „825 Jahre Lokfeld“. Als Grundlage diente gesammeltes Material aus der Geschichtsgruppe des Förder- und Kulturvereins Lokfelder Brücke e.V., zusammen mit Olivers eigenen Recherchen. Die Idee entstand gemeinsam im Winter zuvor, nach dem Wunsch, die Geschichte der Lokfelder Brücke auf die besondere Art und Weise erzählen zu können, wie wir sie hier seit Jahren erleben und sie früher gewesen sein könnte. Das Resultat entspricht dem „Geist der Lokfelder Brücke“ so sehr und ist zugleich ein fantastisches Original des Lübecker Schriftstellers, dass wir wirklich bewegt waren, als wir sie das erste Mal von Oliver hören durften. Von der Vor- und Frühgeschichte im Travetal, zur Siedlungsgeschichte Lokfelds um 1189, über die gelebte Geschichte der letzten Jahrzehnte einer guten alten Gaststätte, bis zu den bisher erlebten Jahren seit 2006 hier an diesem Fluss – laden wir euch ein zu lauschen und zu leben, erfahren und begegnen, dem Geist an einem Ort, wo wir nimmer wollen fort…

Lesungen:

Leseprobe:

„Ich habe schon viele Nächte erlebt. Wie viele, vermag ich nicht zu sagen. Und manchmal,
wenn mich die Dunkelheit umfängt und schleichend Stille einkehrt, frage ich mich, wie es
wohl sein mag, schlafen zu können. Dann verspüre ich den Wunsch, Augen zu haben, die
ich schließen könnte, um einfach nur zu ruhen. Doch ich weiß, dass ich niemals Schlaf
finden werde. So lausche ich in die Nächte, höre das leise Gurgeln des Flusses, das
Rascheln der Mäuse im Unterholz, und warte darauf, dass ein weiterer Morgen weit im
Osten graurot heraufzudämmern beginnt.
Zahllose dieser langen, finsteren Nachtstunden habe ich damit zugebracht, mich zu
fragen, wer ich wohl bin. Doch eigentlich weiß ich es. Ich habe es schon immer gewusst,
so lange meine Erinnerung zurückreicht, bis sie sich in fernen Nebeln verliert. Denn ich bin
der Geist der Lokfelder Brücke.
Nicht der Geist der Häuser, die an dieser Stelle errichtet wurden. Häuser entstehen
und vergehen. Auch nicht der Geist der Brücke, die hier die Trave überspannt. Ich kannte
diese Ufer schon undenklich lange, bevor sie durch eine Brücke verbunden wurden. Ich
bin nicht einmal der Geist der Trave, die immerfort dahinfließt, beständig nur in ihrem ewig
gleichzeitigen Kommen und Gehen, während ich verharre. Nein, ich bin die Summe all
dessen, aber auch viel mehr als das und zugleich etwas ganz anderes.
Mehr als alles andere bin ich wohl die Essenz der vielen Menschen, die hierher
kamen. Denn wo feste Ufer und ruhig strömendes Wasser eine Stelle schaffen, an der
man einen Fluss überqueren kann, da finden sich unweigerlich Menschen zusammen.
Und während sie für Stunden oder auch Tage darauf warten, dass der Nachen des
Fährmanns sie übersetzen kann oder die Furt passierbar wird, sitzen sie beieinander,
unterhalten sich, trinken miteinander, lachen und singen, streiten und weinen. Dann
werden ihre Gedanken, ihre Hoffnungen und Ängste, ihr Wissen und alles, was sie in sich
tragen, ein Teil von mir.
So sehr haben diese Menschen mein Wesen geprägt, dass ihr erstes Erscheinen
den frühesten Punkt meiner Erinnerung darstellt. Alles davor ist ein zeitloses schwarzes
Nichts. Sie kamen vor undenklichen Zeiten, in Tierfelle gekleidet, verängstigte Wanderer in
einer Welt voller Gefahren. Sie tauchten aus den dichten Wäldern auf, entfachten Feuer
und lagerten für eine Weile an dem noch namenlosen Fluss, der ihnen reichlich Wasser
und Fische schenkte, damit ihre Kinder und Alten sich erholen konnten. Und ohne dass sie
es wussten, teilten sie mit mir, was sie ausmachte. Wenn sie nachts zu den Sternen
aufblickten, fragten sie sich, wie es wohl ihren toten Ahnen ergehen mochte, sie sorgten
sich darum, ob es entlang des Flusses ausreichend Wild geben würde, sie grübelten, wie
sie die scharfkantigen Steinsplitter mit Hilfe von geflochtenem Gras am besten an Stöcken
befestigen könnten. Aber was immer sie auch taten, sie fühlten sich wohl an diesem Ort.
Ich spürte ihre Zufriedenheit, sie durchdrang und erfüllte mich mit einer ruhigen Wärme.
Doch sie stimmte mich auch traurig, weil ich wusste, dass diese Menschen weiterziehen
würden, wie es ihre Art zu leben verlangte. So kam es dann auch. Als sie schließlich
aufbrachen, ließen sie eine große Stille zurück. Und ich, aus einem Schlummer erwacht, in
den ich nicht wieder zurückfand, begann zu warten.
Ich musste lange warten. Dann und wann trug das Wasser der Trave eine vage
Ahnung mit sich, dass Menschen weiter flussaufwärts die Strömung durchwatet oder an
den Ufern gerastet hatten. Flüchtige Eindrücke nur, die rasch vorüberzogen. Doch der Ort,
dem ich innewohne, war zu abgelegen. Niemand hatte Grund, hierher zu kommen,
niemand verirrte sich hierher. Sommer und Winter vergingen, Jahre und Jahrhunderte
zogen vorüber, in denen ich alleine mit mir selbst blieb.
Schließlich aber kehrten eines Frühjahrs die Menschen zurück. Und nun erst merkte
ich, wie viel Zeit verstrichen sein musste, denn sie hatten sich verändert. Größer waren sie
geworden, und statt Fellen trugen sie Kleidung aus grob gewebtem Leinen. Aber nicht nur
ihr Erscheinungsbild war ganz anders, als ich es in Erinnerung hatte. Auch in ihnen sah es
anders aus. Sie hatten sich eine Vorstellung davon erschaffen, warum die Welt, in der sie
sich befanden, so war, wie sie war. Sie hatten den übermächtigen Kräften der Natur, von
denen ihr Überleben abhing, Namen und Gestalten zugewiesen und somit gebändigt, um
nicht unentwegt in Angst vor dem Unerklärlichen zu leben. Die Furcht hatte sich in
Ehrfurcht verwandelt.
Es war nur wenige Männer, die an einem feuchten, nebelverhangenen Tag aus dem
Wald traten. Stundenlang hatten sie sich ihren Weg durch das dichte Unterholz gebahnt;
nun ließen sie sich erschöpft am Ufer nieder. Sie hatten sich mit ihren Familien in der
Nähe niedergelassen und erkundeten nun die Gegend, in der sie fortan leben würden.
Während sie sich ausruhten und beratschlagten, ob sie umkehren oder weitergehen
wollten, bemerkte einer von ihnen, dass der Fluss, der zu jener Zeit mehrfach so breit war
wie heute, an dieser Stelle seicht genug zum Durchwaten aussah. Zwei von ihnen
versuchten es, nachdem sie die Wassergeister, die sie dort vermuteten, um Vergebung für
das Eindringen in ihr Reich gebeten hatten. Indem sie sich vorsichtig Schritt für Schritt
vorantasteten und den Boden vor sich mit langen Stöcken nach Untiefen absuchten,
durchquerten sie den grünlichtrüben Strom. Mit nassen Beinen, doch ansonsten
wohlbehalten, gelangten sie zum gegenüberliegenden Ufer, sahen sich dort um und
kehrten dann wieder zurück. Sie waren zufrieden mit der Furt, die sie entdeckt hatten. Und
auch ich war glücklich. Denn es bedeutete, dass öfters Menschen kommen würden, um an dieser Stelle von einem Ufer ans andere zu wechseln. Dann, bevor die Männer sich auf
den Weg machten, um vor Einbruch der Nacht wieder bei ihren Höfen zu zu sein,
ereignete sich noch etwas, von dem ich nicht ahnen konnte, wie lange es mich begleiten
würde. Sie bezeichneten den Fluss, den sie vorgefunden und überwunden hatten,
untereinander als Treva. Es war nicht als Name gedacht, denn in ihrer Sprache bedeutete
es einfach nur Fluss. Und dennoch schien sich das Wort in diesem Moment untrennbar mit dem träge strömenden Wasser, mit dem Ort und somit auch mit mir zu verbinden. Etwas hatte sich verändert.
Von nun an sah ich tatsächlich häufiger Menschen. …
Es ging nicht so weiter. Die Zeiten änderten sich, und die Lokfelder Brücke musste
schließen. Nach sieben langen Jahrhunderten gab es kein Gasthaus mehr am Ufer der
Trave, keine Feiern, keine Menschen, die sich um die Tische versammelten und sich
unterhielten. Drückende Stille kehrte im Saal ein. Die Autos fuhren vorüber, ohne dass ihre
Insassen den Ort spürten. Ich fühlte mich schrecklich verlassen.
Doch es sollte nicht so bleiben. Das Leben kehrte in die Lokfelder Brücke zurück.
Und ich genieße seither wieder jede Gelegenheit, den Bewohnern und Gästen, die hier
zusammenkommen, meine Geschenke zu überreichen. Der gute Geist der Lokfelder
Brücke wirkt weiter. Und so wird es bleiben. Ich weiß es.“

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Oliver Henkel:

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